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Intelligentes Glas als Schlüssel zur urbanen Energiewende

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Über die Hälfte der sieben Milliarden Weltbürger lebt in Städten, bis zum Jahr 2050 wird die Zahl auf fast zehn Milliarden steigen. Um einen Klimakollaps in den Metropolen zu vermeiden, führt an energieeffizienten Gebäuden kein Weg vorbei. Glasfassaden, die Ökostrom erzeugen, Wärme- und Sonnenschutz bieten und sich zudem automatisch den Lichtverhältnissen anpassen, helfen beim Klimaschutz.

Früher war Wilhelmsburg für Hamburg-Besucher tabu. Der Stadtteil galt als grau und arm an Attraktionen. Doch sein Image wandelt sich: Mittlerweile steht hier das „grünste Haus“ der Hansestadt. Mit seiner sogenannten Bioreaktorfassade ist das fünfgeschossige BIQ – die Abkürzung steht für „Haus mit Biointelligenzquotient“ – ein Leuchtturm für nachhaltiges Bauen.

Bildbeschreibung: Von der Rolle: Flexible Solarzellen lassen sich einfach im Rolle-zu-Rolle-Verfahren herstellen. Das ermöglicht niedrige Kosten.
Bildbeschreibung: Von der Rolle: Flexible Solarzellen lassen sich einfach im Rolle-zu-Rolle-Verfahren herstellen. Das ermöglicht niedrige Kosten.

In Glasplatten an der Fassade wachsen Algen, die aus Licht und Kohlendioxid Biomasse und Wärme produzieren. Die Wärme wird über Wärmetauscher den 15 Wohnungen direkt zum Heizen zur Verfügung gestellt, die Biomasse wird abgeschöpft. Aus ihr wird Biogas gewonnen, das eine Brennstoffzelle in Strom und Wärme umwandelt.

Eine Steuerung verteilt die Energie und regelt zugleich das Wachstum der Algen, indem sie ihnen immer genau so viel Kohlendioxid (CO2) aus der Brennstoffzelle zuleitet, wie sie für die Photosynthese benötigen. Pro Jahr liefern die Organismen 4.500 Kilowattstunden Strom – das reicht für zwei Haushalte. Der restliche benötigte Strom wird bei dem Demonstrationsprojekt aus dem öffentlichen Netz bezogen. Wärme produziert die Fassade dagegen an hellen Tagen im Überschuss. Sie wird ins Nahwärmenetz eingespeist oder in Erdwärmesonden gespeichert. Im Winter, wenn der Bioreaktor weniger Heizenergie liefert, greift BIQ auf diese Speicher zurück.

Das Algenhaus könnte wegweisend für künftige Bauvorhaben sein. Städte sind regelrechte CO2-Schleudern: Sie verbrauchen global betrachtet 75 Prozent der eingesetzten Primärenergie und verursachen 80 Prozent der Treibhausgas-Emissionen, Tendenz bei wachsender Weltbevölkerung steigend. Laut Klaus Sedlbauer, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik (IBP), muss deshalb schnell gegengesteuert werden. „Etwa 40 Prozent der Primärenergie-Ressourcen verwenden wir für Beheizung und Kühlung unserer Gebäude. Da ist ein gigantisches Einsparpotenzial vorhanden. Das gilt es, in Mitteleuropa zu adressieren.“ Zudem müssten in den Gebäuden fossile durch erneuerbare Energieträger ersetzt werden und die grüne Energie auch gespeichert werden können, sagt Sedlbauer.

Stadtplaner und Architekten müssen nun schnell handeln: Intelligente Häuser sind gefragt, die Strom und Wärme selbst produzieren und gleichzeitig einen komfortablen und sicheren Lebensraum bieten. Gemeinsam mit elf weiteren Fraunhofer-Instituten leistet das IBP im Projekt „Morgenstadt“ derzeit wichtige Vorarbeit. Die Forscher entwickeln anhand der sechs Städte Singapur, Kopenhagen, New York, Berlin, Freiburg und Tokio Konzepte, wie die Energiewende in Metropolen mit unterschiedlichen Gegebenheiten gelingen kann. Klar ist für die Wissenschaftler schon jetzt: Intelligente Strom- und Wärmenetze, die die Energieerzeugung und den -verbrauch über viele verschiedene Energieträger hinweg verknüpfen, werden überall elementare Voraussetzung sein.

Gebäude mit intelligenter Technik und Gebäudeautomation sollen zu wichtigen Säulen dieser „Smart Grids“ werden. Einfacher als Algen ließe sich zum Beispiel Solartechnik in die Häuser einbinden. Solarmodule können sowohl auf Dächer geschraubt als auch als Strom erzeugende Fenster oder in die Gebäudehülle integriert werden. Zusätzliche Batteriespeicher helfen, möglichst viel Solarstrom direkt im Gebäude zu verbrauchen. Das Problem bei der Direktnutzung ist, dass Solarstrom stark schwankt und oft nicht zur Verfügung steht, wenn er gebraucht wird. Batterien nehmen Überschüsse auf und geben die Solarenergie bei Bedarf wieder ab.

Solarthermische Anlagen wiederum liefern die Energie für die Warmwasserbereitung und das Heizen. Kollektoren auf dem Dach verwandeln Sonnenstrahlen in Wärme. Über einen Wärmetauscher wird Wasser in einem Speicher erhitzt und kann in Küche, Bad und zur Einsparung von Heizenergie eingesetzt werden. Die Kollektoren können auch mit sogenannten Sorptions-Klimaanlagen kombiniert werden, die Wärme in Kälte verwandeln. So lässt sich überschüssige Hitze auch im Sommer sinnvoll nutzen.

Werden zudem bestehende Gebäude energetisch saniert, sinkt der CO2-Ausstoss weiter. Forscher der Technischen Universität Berlin haben zum Beispiel in der Studie „Intelligente Energieversorgung für Berlin 2037“ ermittelt, dass der Gesamtenergiebedarf in der Hauptstadt allein durch Energiesparmaßnahmen wie neue Heizungen und Fenster um 45 bis 50 Prozent gesenkt werden kann.

Dass die Morgenstadt Realität werden und leistungsfähige Module, Kollektoren und Energiesparfenster flächendeckend zum Einsatz kommen können, ist allerdings an eine wesentliche Bedingung geknüpft: Innovationen aus Glas. Moderne Glasfassaden schützen vor Sommerhitze und machen stromfressende Klimaanlagen überflüssig. Mit sogenannten elektrochromen Nanopartikeln angereicherte Scheiben verändern bei Spannung oder durch andere Auslöser wie Sonneneinstrahlung oder Erwärmung ihre Lichtdurchlässigkeit und dienen so als Sonnen- oder Sichtschutz. Andererseits sind Fensterfassaden so gut isoliert, dass im Winter keine Wärme mehr nach außen entweicht – umgekehrt aber die Wintersonne Energie in die Räume tragen kann.

Außerdem schützt Glas die empfindlichen Absorberschichten der Solarmodule und -kollektoren vor äußeren Witterungseinflüssen und trägt dank spezieller Beschichtungen und Strukturen dazu bei, dass mehr Licht zur Strom- und Wärmeproduktion genutzt wird. Neues, nur wenige Millimeter starkes Flachglas könnte der Photovoltaik zusätzlichen Schub verleihen: Es ermöglicht besonders stabile Doppelglas-Module oder Glas-Sandwiches mit eingebetteten Photovoltaik-Folien.

Die glasstec 2014 in Düsseldorf, die weltweit größte und internationalste Fachmesse der Glasbranche, wird die wachsende Bedeutung des Werkstoffs Glas für Klimaschutzziele vom 20. bis 24.10.2014 widerspiegeln. Im Rahmen des Schwerpunkts „Intelligente Gebäudehüllen“ werden umfassend die Aspekte beleuchtet, die für zukunftsweisende, energetisch effiziente und nachhaltige Gebäudehüllen maßgeblich sind. Die Sonderschau „glass technology live“, die von der Universität Stuttgart organisiert wird, zeigt am Beispiel von großformatigen Fassaden-Mock-ups und Eins-zu-Eins-Modellen die neuesten Entwicklungen im Bereich Fassade und Energie.

Unter anderem wird auf der Sonderschau demonstriert, wie moderne Wärme- und Sonnenschutzgläser sowie schaltbare Verglasungen in Gebäude integriert werden können. Ein Beispiel bietet die modular aufgebaute Glasfassade „iconic skin“ der deutschen Firma seele. Das Fassadenelement erscheint völlig homogen, ohne sichtbare Pfosten, Querträger und andere Befestigungen. Das Element besteht aus einem Innen- und Außenglas. Dazwischen befindet sich ein selbst regelndes Druckausgleichssystem, das durch Interaktion mit dem Außenklima eine passive Belüftung sicherstellt.

Das Glas-Sandwich bietet laut seele eine exzellente Wärme- und Schallisolation und ermöglicht es, Sonnenschutz-Elemente zu integrieren. Maximale Elementgrößen von 3,20 mal 15 Metern verbinden mehrere Stockwerke zu einer vertikalen optischen Einheit. Die Einheiten können individuell gestaltet werden: Arrangement, Form und Größe der transparenten Bereiche sowie die Bedruckung und Farbgebung der äußeren und inneren Glasflächen können Kunden frei wählen.

Die Firma Josef Gartner, eine Tochter der italienischen Permasteelisa-Gruppe, hat einen anderen Typ einer funktional eigenständigen Fassade entwickelt. Die Besonderheit der CCF-Fassade (Closed Cavity Facade) ist, dass der Raum zwischen innerer und äußerer Fassadenschale vollständig gekapselt ist. Der geschlossenen Kammer wird mit leichtem Überdruck getrocknete und gereinigte Luft zugeführt, die verhindert, dass sich auf den Fensterscheiben Kondensat und Schmutz ablagern – so müssen sie nicht regelmäßig aufwändig gereinigt werden.

Künftige Lösungen für die Gebäudehülle werden nach Meinung von Experten noch stärker die Photovoltaik integrieren. Analysten der US-Marktforschungsfirma Nanomarkets schätzen, dass sich der Markt für Building-Integrated Photovoltaic (BIPV)-Glas bis 2019 von 823 Millionen auf 2,7 Milliarden US-Dollar mehr als verdreifachen wird. In ihrem aktuellen BIPV-Report bewerten sie BIPV-Glas als eine Schlüsseltechnologie für Nullenergiehäuser, die aufgrund neuer Gebäuderichtlinien in den USA und Europa künftig zum Standard werden.

Die Photovoltaikindustrie bereitet sich bereits auf die technologischen Herausforderungen vor. Firmen wie Heliatek oder Belectric OPV können mittlerweile komplett durchsichtige Solarfolien konzipieren, die als unsichtbare Kraftwerke fungieren können. Neben den Herstellern organischer Photovoltaik entwickeln auch immer mehr Produzenten von Dünnschichtmodulen Photovoltaik-Folien. Miasolé aus Kalifornien etwa, Tochterfirma des chinesischen Hanergy-Konzerns, erreicht mit photoaktiven Kupfer-Folien mittlerweile mehr als 14 Prozent Wirkungsgrad – fast so viel, wie herkömmliche Siliziummodule ermöglichen.

Mit dem Trend zu Solarfolien geraten auch neue Produktionsmethoden in den Fokus. Siliziumzellen werden aufwändig aus Siliziumblöcken gesägt, während Dünnschichtmodule in speziellen Öfen „gebacken“ werden. Flexible Zellen hingegen lassen sich kontinuierlich und schnell durch Rolle-zu-Rolle-Aufdampfung oder Rollendruck herstellen. Der ostdeutsche Anlagenbauer 3D-Micromac wird im Herbst den ersten Solarhersteller mit Maschinen für die Rolle-zu-Rolle-Bearbeitung von dünnen Schichten ausstatten. „Flexible, kostengünstig produzierbare Photovoltaik könnte zum großen Trend werden“, erklärt 3D-Experte Thomas Kießling.

Um die BIPV erfolgreich voranzutreiben, müssen Glas- und Photovoltaikindustrie künftig aber enger zusammenarbeiten. Welche Solarzellen eignen sich, wer integriert die Solarfolien in das Bauglas, zu welchen Kosten ist das möglich? „Es sind noch viele Fragen offen“, sagt Timo Feuerbach, Referent des Forums Glastechnik im deutschen Maschinenbauverband VDMA. Auf dem glasstec-Kongress „Solar meets Glass“ vom 20.-21.10.2014 haben die Branchen die Chance, Kooperationen anzubahnen – und so der Morgenstadt ein Stück näher zu kommen.

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